Echt

Am Ostermontag, dem letzten Tag des Lehrgangs, habe ich wieder gesehen, weshalb es sich lohnt, über Jahrzehnte dranzubleiben. Silke Makowski machte den vierten Dan, und durfte Gegentechniken, Verkettungstechniken und ein Randori gegen fünf Angreifen zeigen (in jedem Fall: “Angriff frei, Technik frei”). Man muss sich das vorstellen als eine fliessende Abfolge von ineinander übergehenden Bewegungen, die jeweils einzeln einen Namen hätten, aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit in die Situation eingepasst werden, dass es schwerfällt, einen Anfang und ein Ende zu benennen.

Budo-Choreographie von diesem Kaliber kenne ich sonst nur aus dem Kino, Aikido von diesem Niveau vielleicht von ein paar Videos mit weit entrückten japanischen Großmeistern. Auf Lehrgängen und im normalen Unterricht werden die Techniken stets fein säuberlich zerlegt, ein quasi gleichberechtigtes Miteinander von hohen Danträgern ist da selten zu sehen.

Das tolle am Osterlehrgang ist, dass alle Dan-Grade zum Anfassen da sind: Mit derselben Silke hatte ich noch am Tag vorher an einer Technik geknobelt (“hat er das jetzt so oder so gezeigt?”). Es sind eben nicht Leinwandhelden, sondern alles ist echt, echte Menschen, die mit Talent und Commitment über lange Jahre dem Weg des Aikido gefolgt wird.

Schon nach wenigen Jahren

Wie schon letztes Jahr hatten wir heute wieder einen sehr langen Tag lang Nikkyo im Programm. Mittlerweile hat sich wenigstens eines meiner Handgelenke an die Behandlung gewöhnt.

Asai meint, Nikyo sei für Anfänger sehr schmerzhaft, aber für die Dan-Träger und die fortgeschrittenen Kyus, die “schon ein paar Jahre trainieren”, sollte mehr gehen (“Geben sie volle Kraft!”). Und tatsächlich kann man diese Entwicklung, gestaffelt nach Kyu- und Dan-Graden, auf der Matte beobachten.

Was mich daran so fasziniert ist, dass offenbar bei regelmäßigem Training ein schleichender Umbau des Körpers stattfindet, der mehrere Jahre braucht und auch nicht schneller zu haben ist. Es ist nicht nur so, dass der Kopf die Bewegung verstehen muss, oder die Motorik geschickter wird, sondern tatsächlich formen sich Sehnen, Bänder und wahrscheinlich sogar die Knochen, um der Belastung entsprechen zu können.

Ich glaube, dass sich das gesamte Körperbild entwickeln muss; um sich in den ungewohnten Bewegungen wieder heimisch zu fühlen, muss sich eine neue einfachst-mögliche Vorstellung bilden (im Sinne von Patterns, Symmetry, and Symmetry Breaking), etwas reichhaltiger und umfassender. Das kann nur passieren, wenn man der neuen Belastung entsprechen will, ihr also positiv gegenübersteht; wenn man dran bleibt und weiter nach einer Lösung sucht; wenn man die alte Situation nicht vergisst, sondern integriert; wenn die neue Situation lange genug besteht, dass man sich darauf einstellen kann; und wenn das Scheitern der bisherigen Vorstellung nicht als ultimatives Scheitern verstanden wird, sondern als Aufforderung.

Kurz gesagt: Anpassung braucht Zeit, und geschieht nur, wenn man mitgehen möchte.

Kleine Ruppigkeiten und kleine Empfindlichkeiten

Heute (beim ersten Tag des Osterlehrgangs) hat mich wieder beeindruckt, wie viel Spaß die meisten auf der Matte haben, obwohl laufend kleine Ruppigkeiten und Missgeschicke passieren. Man steckt sich den Ellbogen irgendwo, tritt sich auf die Füße, touchiert beim Rollen den Kopf des Nachbarn, zieht mit den Fingernägeln übers Gesicht oder steckt auch mal einen Finger leicht ins Auge, setzt einen Hebel in einer Richtung an, die gar nicht geht, etc.

Und ich meine jetzt nicht die gewollten “Schmerzen” durch Hebel und Fallen. Darauf ist man eingestellt und kann sie auch ganz gut selbst dosieren; das ist dann im besten Fall so schmerzhaft, wie einen Kasten Wasser zu tragen oder eine schwere Tür zu öffnen.

Im “normalen” Leben erlebt man oft genug, dass sich Menschen “auf die Zehen getreten” fühlen. Der sprichwörtliche “Tritt” oder Schritt auf die Zehen ist deswegen so spannend, weil er keinen echten Schaden anrichtet, aber aus Höflichkeit/Respekt doch meistens unterlassen wird. Und weil er meist aus Ungeschicklichkeit oder Nachlässigkeit geschieht, nur selten aus Absicht. Der Unterschied ist reine Deutungssache, und hat viel mit den Empfindlichkeiten und Aggression des Getretenen zu tun.

Wie viel Geschicklichkeit und Rücksichtnahme kann ich vom andern erwarten? Auch für den Trainingspartner gilt: Man ist, wo man ist, nicht weiter, und die Entwicklung braucht Zeit.

Der Zauber des Aikido sorgt dafür, dass wir uns nicht mit eskalierenden Deutung-Verkrampfen-Rache-Spielchen unterhalten, sondern eine Ungeschicklichkeit oder mangelnde Achtsamkeit als solche sehen, darauf hinarbeiten, sie abzustellen, und offen für den eigentlichen Spaß bleiben: gemeinsam eine Bewegung zu meistern und dabei ordentlich “das Ki zu knoten und zu kneten”!

Harmonie bis zum Umfallen

“Wir stehen hintereinander, in der gleichen Richtung, mit der gleichen Haltung. Wenn ich jetzt das Bein zurücknehme, fällt er um. Da braucht man gar nicht groß zu ziehen.”

Andreas Jürries erklärt einen Irimi Nage. Dadurch, dass sich die Kräfte harmonisieren, entsteht eine Verbindung, in der sich eine Bewegung direkt auf den Partner überträgt. Und da die Positionen dann doch unterschiedlich sind, fällt der eine, und der andere bleibt stehen.

Mich beunruhigt die Verantwortung, die darin liegt. Je harmonischer die Beziehung, desto mehr bewegen wir einander, und können uns mit kleinsten Gesten zu Boden werfen.